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Multiplikatorentraining: Lernen, durch Kommunikation Aggressionen zu vermeiden

Um Situationen zu deeskalieren oder es erst gar nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen, gibt es an der Kreisklinik Groß-Umstadt regelmäßig eine Multiplikatorenausbildung.

Wie ist es, wen einem keiner zuhört? Die Hälfte der 19 Teilnehmer der Multiplikatorenausbildung im Bildungszentrum für Gesundheit an der Kreisklinik in Groß-Umstadt erfährt es gerade am eigenen Leib: Jeder sitzt einem Partner gegenüber und erzählt ihm eine Geschichte. Die Reaktionen sind jedoch gleich null. Blicke gehen aus dem Fenster, das Handy wird gezückt, die Arme verschränkt und auch mal gegähnt. „Wie geht´s Euch denn jetzt?“, fragt Gernot Walter, der zusammen mit Riccardo Biedebach das Seminar leitet. Die Reaktionen sind eindeutig: „Fühlte mich nicht wahrgenommen“, „verunsichert, hilflos“, „habe mich unwohl gefühlt“ lauten die Kommentare der Betroffenen. Zweite Runde: Jetzt werden dieselben Geschichten erzählt – nur die Zuhörer reagieren auf Anweisung ganz anders, sie hören zu, schauen den Gesprächspartner an, reagieren und interagieren. Eine ganz andere Gesprächssituation, die von den Teilnehmern dann auch als „viel angenehmer“ oder „motivierend“ wahrgenommen wird.

„Kommunikation ist wichtig“, sagt Riccardo Biedebach, „wenn wir Menschen nicht wahrnehmen, kommt es zu Aggressionen.“ Und die wollen die Mitarbeiter von Kliniken, die in unterschiedlichen Bereichen tätig sind – Wohnbereiche, Intensivstation, Psychiatrie -, nicht haben. Studien zeigen, dass Aggressionen und Gewalt im Gesundheitsbereich in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Das reicht von Beschimpfungen der Pfleger und Ärzte bis hin zu tätlichen Angriffen oder gar Morddrohungen. Um Situationen zu deeskalieren oder es erst gar nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen, gibt es an der Kreisklinik Groß-Umstadt regelmäßig die Multiplikatorenausbildung in Zusammenarbeit mit dem deutschen Ableger von Connecting, einer Partnerschaft für Training und Beratung mit Zentrale in Amsterdam, das sich auf die Beratung und Begleitung von Einrichtungen im Gesundheits- und Sozialwesen spezialisiert hat. Gernot Walter hat seine Erstausbildung über Connecting bereits 2002 erhalten, gibt sein Wissen seit 2008 in der Multiplikatorenausbildung weiter, wie auch Riccardo Biedebach, der 2012 in Groß-Umstadt ausgebildet wurde. Allein im Zentrum für Seelische Gesundheit in Groß-Umstadt gibt es schon neun Trainer, die ihr Wissen weitergeben. Walter und Biedebach arbeiten auch beide dort.

Die sogenannten Multiplikatoren sollen in ihren Einrichtungen eine Veränderung im Umgang mit Aggression und Gewalt erreichen, indem sie in Abstimmung mit der Einrichtungsleitung die Mitarbeiter schulen. Vorbeugung durch Kommunikation gehört dazu. „Wenn ich ein paar Stunden in der Notaufnahme sitze und nichts passiert, dann werde ich unruhig, bekomme Angst“, nennt Gernot Walter ein Beispiel. Und die führt irgendwann zu Aggressionen. Die Teilnehmer an der derzeitigen Multiplikatorenausbildung haben nun gelernt, wie wichtig es ist, die Leute wahrzunehmen, ihnen zuzuhören oder sich ihnen zuzuwenden. „Wenn man den Patient in der Notaufnahme anspricht und ihm erklärt, warum es so lange dauert, weiß er, was los ist und fühlt sich wahrgenommen.“ Das vermeidet Aggressionen.

Die Teilnehmer kommen aber nicht nur von der Kreisklinik Groß-Umstadt, sondern auch von Kliniken in Langen, Hanau, Eickelborn, Warstein/Lippstadt oder Bergisch-Gladbach. Sie lernen nicht nur Kommunikation, sondern auch, „wie Gewalt entsteht, wie ich damit umgehe und wie ich mich selbst reguliere“, erklärt Walter. Dazu gehören auch körperliche Techniken. Gelernt wird aber auch, sich selbst zu disziplinieren und Vorurteile abzubauen, um möglichst offen und vorbehaltslos kommunizieren zu können. Jeder Mitarbeiter des Zentrums für Seelische Gesundheit etwa muss das Basis-Training absolvieren. „Und das ist emotional, kognitiv und körperlich fordernd“, sagt Gernot Walter. Und es geht nicht über Nacht: Die derzeitige Multiplikatorenausbildung hat im August begonnen und geht bis September 2025. „Es ist ein Prozess“, sagt Walter, „und Prozesse brauchen Zeit.“

Die Seminare von Connecting werden deutschlandweit angeboten und das Interesse ist in den vergangenen 20 Jahren angestiegen. Mit Corona kam nochmal ein starker Zuwachs. „Da haben sich die Dinge verschärft“, sagt Walter, „die sozialen Kompetenzen sind ein Stückweit verloren gegangen.“ Für die Betriebsleitung der Kreiskliniken ist diese Multiplikatorenausbildung eine Investition zum Wohle der Patienten und zum Wohle der Mitarbeiter. „In einer Klinik, in der aufmerksame und zugewandte Mitarbeiter arbeiten, fühlen sich die Patienten wohl und gesunden schneller. Das ist unser Anspruch“, sagt Christoph Dahmen. „Auch für unsere Ärzte und Pfleger ist es ein Schutz, denn der Umgang mit Aggressionen ist anstrengend und nimmt physisch und psychisch mit – mit allen Folgen. Daher wollen wir Aggressionen und Gewalt natürlich vorbeugen“, sagt Pelin Meyer.